Aus der Sicht von Nichtregierungsorganisationen:

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Ostseekooperation
von Mensch zu Mensch

(Mit Schwerpunkt: baltische Staaten)

Von Albert Caspari, INFOBALT, Bremen

 

Der Anlass

Für ein halbes Jahr - bis zum Juni 2001 - hat die Bundesrepublik Deutschland den Vorsitz des 1992 gegründeten Rats der Ostseeanrainerstaaten (CBSS) übernommen. Dies nahmen die norddeutschen Bundesländer sowie das Auswärtige Amt zum Anlaß, sich einige grundsätzliche Gedanken zum Stand der Kooperation zwischen den Ostseeanrainerstaaten zu machen. Anfang Juni 2001 wird in Hamburg die nächste Konferenz der CBSS-Staaten stattfinden. Ähnlich dem Vorsitz im Ministerrat der Europäischen Union (EU), den Deutschland in der ersten Jahreshälfte 1999 innehatte und der im EU-Gipfel von Köln seinen Höhepunkt fand, ist es auch diesmal spannend mitzuerleben, welche Schwerpunkte sich Deutschland für den Zeitrahmen seiner CBSS-Präsidentschaft gesetzt hat.

Bereits im Oktober 2000 formulierten Mitarbeiter des Auswärtigen Amts erste Entwürfe zur Förderung von sogenannten Nicht-Regierungsorganisationen (im englischen Sprachraum NGOs genannt). Darin wird festgestellt, dass sich die Zusammenarbeit zwischen Partnern in der Ostseeregion in den letzten Jahren vor allem durch "Bottom-up-Initiativen" kennzeichnen lasse - Aktivitäten der Basis also, die den Rahmen für Zusammenarbeit auf höherer Ebene vorgeben und geprägt haben. Gleichzeitig wird festgestellt, dass zwar einerseits der pluralistische Charakter der Ostseekooperation durch diese gewachsene Vielfalt gestärkt werde, andererseits aber dieselbe Vielfalt auch die Entwicklung einer Übersicht zu den Kooperationsaktivitäten schwierig mache und Synergieeffekte erschwere. Daher wird die Durchführung eines NGO-Treffens kurz vor dem CBSS-Ministerrat im Juni 2001 ins Auge gefasst, damit die verschiedenen Organisationen hierdurch Gelegenheit bekämen, gemeinsame Ziele zu fixieren und Visionen zu entwickeln.

 

Die Konzeption des Auswärtigen Amtes

Die Konzeption des Auswärtigen Amtes (in der Version vom 9.10.00) nimmt für sich in Anspruch, die "substanziellen Fragen" der NGO-Arbeit ansprechen zu wollen. Von daher werden drei Fragekomplexe abgeleitet, denen man zuerkennt, gleichermassen wichtig sowohl für die NGO-Arbeit wie auch für den Ostseerat zu sein:

  1. Umweltfragen & nachhaltige Entwicklung
  2. Demokratisches Engagement & Schutz von Minderheitenrechten
  3. Kulturaustausch & Jugendarbeit

Als Zielgruppen für eine Teilnahme an der geplanten Veranstaltungen werden solche NGOs identifiziert, die bereits Netzwerkstrukturen aufgebaut haben und überregional arbeiten - konkret benannt werden bereits in den einleitenden Betrachtungen zwei: Das Netzwerk der Umweltverbände im Ostseeraum COALITION CLEAN BALTIC (CCB) und das BALTIC YOUTH FORUM.

Als einzuladende Gruppen werden solche benannt, die bereits Erfahrungen mit bi- oder multilateralen Projekten haben. Als sehr wichtige Phase der Vorbereitung werden daher die Schritte zur Identifizierung solcher Gruppen betont.

Staatsminister Zöpel benannte am 4./5.September anlässlich der Jahrestagung der Ostsee-Parlamentarierkonferenz in Malmö folgende weitere

Schwerpunkte der deutschen Präsidentschaft im Ostseerat:

 

Ansätze zur Situationsanalyse

Mit Datum vom 1. November 2000 übermittelte die Bundesregierung die Antwort auf eine Große Anfrage der CDU/CSU (Abgeordnete Wolfgang Börnsen, Gunnar Uldall, Ulrich Adam und weitere) zum Thema

"Die Ostseeregion - Chancen und Risiken einer Wachstumsregion
von zunehmender weltweiter Bedeutung."

Es darf also wohl davon ausgegangen werden, dass der in diesem Papier wiedergegebene Sachstand auch die Positionen der Bundesregierung zum Thema Ostseekooperation wiedergibt. Bei genauerer Durchsicht dieser Stellungnahme ist allerdings dringend zu hoffen, dass die deutsche Präsidentschaft im Ostseerat vielleicht dabei hilft, doch noch etwas genauer sich mit dem Thema Ostsee zu befassen. In vielen Bereichen erscheinen die gegebenen Informationen nur äußerst lückenhaft bzw. es wird offensichtlich, dass Ostseepolitik in Berlin noch nicht eine Priorität vorderen Ranges genießt.

 


Um zu einer realistischen Analyse der Entwicklung politischer Initiativen der Ostseekooperation zu erhalten, seien an dieser Stelle zunächst stichwortartig die

12 Leitsätze der Beziehungen zu den baltischen Staaten

von 1998 vorangestellt, erstellt noch von der alten CDU/FDP-Bundesregierung:

  1. Anwalt der Balten - Hilfe bei der Heranführung der baltischen Staaten an die Europäische Union.
  2. Sicherheit in der Region - Bekräftigung des NATO-Beschlusses über die Osterweiterung unter der Bedingung, dass bei diesem Prozess keine neuen Gräben aufgerissen werden und keine sicherheitspolitischen Grauzonen entstehen. Möglichkeiten, an Massnahmen der "Partnerschaft für den Frieden" (PfP) teilzunehmen, sollen ausgebaut werden. Unterstützung der OSZE-Missionen in Lettland und Estland, um zu einer Normalisierung der Beziehungen mit Russland beizutragen.
  3. Assoziierte WEU-Partnerschaft - Angebot militärpolitischer Zusammenarbeit, verstärkte Nutzung der Möglichkeiten der EU-Assoziierung, um an der zukünftigen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik frühzeitig mitzuwirken.
  4. Baltisch-russischer Ausgleich - Absicht, die Minderheitenpolitik der baltischen Staaten an den im Europarat eingegangenen Verpflichtungen zu messen. Russland sollen die Entwicklungspotentiale verdeutlicht werden, die sich als zukünftiger Nachbar der EU ergeben.
  5. Stopp des illegalen Transits - Deutschland will vordringlich helfen, die Probleme des Waffen-, Menschen- und Rauschgiftschmuggels zu bekämpfen. Es betrachtet dies auch als einen Schwerpunkt der Arbeit im Ostseerat.
  6. Koordinierte Hilfe - es wird hingewiesen auf das TRANSFORM-Programm der Bundesregierung, dass Anfang der 90er Jahre die Ausbildung von Fach- und Führungskräften förderte. Weitere finanzielle Hilfe wird aber nicht versprochen - Deutschland will sich lediglich gegenüber Internationalen Finanzorganisationen wie IWF, Weltbankgruppe, Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung und der Europäischen Investitionsbank auch künftig für die Belange der baltischen Staaten einsetzen. Es wird betont, dass Deutschland an den Leistungen der EU zu 28% beteiligt ist, und bis 1995 über die EU von Deutschland Unterstützungsleistungen für die baltischen Staaten in Höhe von insgesamt 377 Mio. DM vergeben wurden.
  7. Mittelstandsförderung - der Aufbau mittelständischer Strukturen durch Beratung von Kammerpartnerschaften und in den Betrieben wurde gefördert, die Bundesregierung finanzierte durch die bundeseigene Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) und die Deutsche Investitions- und Entwicklungsgesellschaft (DEG) baltische Förderbanken mit öffentlichen Mitteln in Höhe von bis zu 35 Mio. DM zur Vergabe von Krediten an kleine und mittlere Unternehmen.
  8. Trade not aid - die Steigerung des deutschen Handels mit den baltischen Staaten zwischen 1993 und 95 um 20-40% wird hervorgehoben, die Bundesregierung hatte bis Ende 1995 172,4 Mio. DM Hermes-Bürgschaften im Handel mit den baltischen Staaten übernommen.
  9. Sprungbrett für Handel mit Russland - Die Bundesregierung ging davon aus, dass das Baltikum als stabile Ausgangsbasis für den russischen Markt das wirtschaftliche Interesse anderer EU-Partner weckt und damit auch die baltisch-russischen Wirtschaftsbeziehungen und das baltisch-russische Verhältnis stabilisiert werden könne.
  10. Freies Reisen - die Bemühungen zur Erreichung visafreien Reisens sollten fortgesetzt werden.
  11. Kultureller Austausch - hier setzte die Bundesregierung auf die Arbeit der Goethe-Institute und die Förderung des Erlernens der deutschen Sprache.
  12. Deutsch-baltischer Dialog - hiermit sind Treffen des früheren Aussenministers Kinkel mit seinen baltischen Amtskollegen gemeint.

 

Was ist neu?

Bei der Durchsicht der 2001 im Rahmen der CDU-Anfrage zur Ostseepolitik vorgebrachten Argumente und der Antwort der Bundesregierung darauf fällt auf, dass es auf beiden Seiten wenig neue Argumente gegenüber der Situation von 1998 gibt.

Aber auch aus der Zeit christ- und freidemokratischer Regierung sind Defizite zu beklagen. Man baute zum großen Teil - neben dem Aufbau regulärer diplomatischer Beziehungen - auf die Exportkraft der deutschen Wirtschaft (die Folgen für die Empfänger hat: Zahlungsbilanzen müssen ausgeglichen werden) und auf die innere Sicherheit (Schutz vor Verbrechern und illegalen Flüchtlingen). Damit setzte man vor allem auf die Besänftigung irrationalen Ängste in der deutschen Bevölkerung, die vor allem um die Sicherung des eigenen Lebensstandards fürchtete. Einem damaligen und auch heute noch im christdemokratischen Mainstream liegenden innenpolitischen Trend zufolge sind Ausländer nur dann "gute Ausländer", wenn sie Deutsch sprechen und sich der deutschen Kultur anpassen (Stichwort "Leitkultur"). Dass man mit dieser Grundüberzeugung im Hinterkopf auch im Ausland Politik machen kann, zeigt zum Beispiel die Konzentration auf Kulturförderung nur dort, wo deutsche Sprache und Traditionen vermittelt oder gepflegt werden. Damit wurde - relativ offen - die regionale Verankerung des Deutschlandbildes in den Partnerländern den deutschsprachigen Minderheiten (wie in Litauen), die zudem noch mit millionenschwerer Förderung des Innenministeriums rechnen konnten, oder Organisationen der Traditionspflege (wie die in Lettland und Estland tätigen Deutschbalten) überlassen. Anlässlich verschiedener Diskussionsveranstaltungen wurde Anfang der 90er Jahre in diesen Kreisen mit einiger Zuversicht davon ausgegangen, dass Deutsch im Ostseeraum in wenigen Jahren wieder zur Fremdsprache Nummer Eins werden würde.

 

Der Anwalt auf dem Sprungbrett

Weiterhin erschreckend an dieser Vorstellung, dass sich diese Grundhaltung auch weitgehend auf die wirtschaftliche Tätigkeit auswirkt. Unter Punkt 9) ihres eigenen sogenannten "Aktionsprogramms" sagt die alte Bundesregierung mehr oder weniger unverblümt, dass unter dem Hauptinteresse der deutschen Wirtschaft in den baltischen Staaten der Aufbau eines "Sprungbretts nach Russland" zu verstehen sei. Was beim ersten Hinsehen noch völlig selbstverständlich und logisch klingt, relativiert sich beim näheren Hinsehen:

Der Unterschied besteht darin, ein Land nicht als Standort eigener Aktivitäten, sondern eben lediglich als "Sprungbrett" zu verstehen. Wie einschlägige Untersuchungen bestätigen, kennzeichnet diese spezielle Philosophie die deutsche Strategie besonders. Aber damit nicht genug: Man ging vor Jahren noch davon aus, dass nach und nach die anderen EU-Staaten diese Haltung übernehmen würden. Aus so einer Vorstellung entspringt mancher Hochmut, zumindest aber eine Unterschätzung der Partner: Während die baltischen Staaten Wirtschaft und Gesellschaft grundlegend umkrempelten, eine neue, sehr bald stabile Währung jeweils einführten, und die internen und externen Strukturen sukzessive auf neue Technologien wie Telekommunikation und Internet umstellten, reisten deutsche Unternehmensberater - großzügig gefördert von der Bundesregierung - umher, um vermeintlich sozialistisch verbildete, unselbständige Menschen mit nachlässiger Arbeitsmoral einmal vorzurechnen, wie hart die Regeln der freien Marktwirtschaft doch seien.

Manche deutsche Ökonom gehen unverhohlen sogar davon aus, dass Sprachkenntnisse des Estnischen, Lettischen oder Litauischen sich ganz erübrigen würden, da die Kommunikation mit den internationalen Partnern bei den Balten sowieso alles andere überlagern würden. Das hartnäckige Beharren besonders auf Lettisch und Estnisch als jeweilige Landessprache interpretierten die einen als nationalistische Marotte, andere als kurzsichtige Verblendung.

 

Deutsche Berater: Fleissig, aber ineffektiv

Flexibilität, Zähigkeit und Ausdauer gehören zum typischen Charakter kleiner Staaten und Völker, die wissen, dass sie zum Überleben Anpassungsfähigkeit und andauernde Zuversicht brauchen. Manch geschäftstüchtiger Gast aus dem deutschen Westen interpretierte das populäre Stichwort der "Hilfe zur Selbsthilfe" als Entschuldigung für verstärktes Eigeninteresse. Dazu kamen einige Missverständnisse: Die einen, welche diese "Nachhilfe zur Selbständigkeit" benötigt hätten, verstanden sie mangels baltischer Sprachkenntnissen vor Ort nicht (denn einer vorausschauenden Regionalpolitik für die Zukunft des Lebens auf dem Lande hätte es durchaus bedurft), die anderen, meist umgeschulte frühere Funktionäre, hatten nicht das Vertrauen ihrer eigenen Bevölkerung, um dass sie nur annähernd so konsequent die Lehrsätze der deutschen Berater hätten umsetzen können. Was blieb: Es wurden riesige Mengen von Papier mit Gutachten vollgeschrieben, deren Erkenntnisse nie umgesetzt wurden. Nach dem Motto "was sich nicht rechnet, lohnt sich nicht" wurden die neuen Wirtschaftspartner eher darin geschult, was ihre interessierten Exportpartner an rechtlichen Sicherheiten, Absatzgarantien und Gewinnspannen benötigten, als dass man sich darüber Gedanken machte, Perspektiven für die Inlandsmärkte in Lettland, Litauen und Estland zu entwickeln. Konsequenterweise schickte das deutsche TRANSFORM-Programm gleich Hunderte von Esten, Letten und Litauer zum Kurzpraktikum auf deutsche Bauernhöfe ("Kartoffelschälen für die EU-Erweiterung") - die baltischen Landwirte hielt man wohl für fortbildungsbedürftig, mit ihrer kleinbäuerlichen Perspektive aber augenscheinlich auch für realitätsfern.

Wie eine solche Haltung sich auf diejenigen auswirken würde, die "auf dem Sprungbrett" leben, war absehbar: Ihnen wird von der deutschen Seite ständig nahegelegt, sich doch bitte wieder als Bindeglied zwischen Ost und West zu profilieren. Die Balten selbst aber versuchten ihren Markt vom russischen zu emanzipieren (die russische Krise von 1999 gab den letzten Anlass dazu) und das wachsende Handelsbilanzdefizit auszugleichen. Wo bisher Rohstoffe wie zum Beispiel Holz massenweise ausgeführt wurden (zuletzt beispielsweise 25% aller Exporte aus Lettland), soll heute ökonomische Selbständigkeit sondern durch Aufbau einer eigenen Veredlung und Verarbeitung erreicht werden (momentan wird durch schwedisch-finnischen Investitionen ein modernes Zellstoffwerk gebaut). Dass Russland die baltischen Partner seinerseits dennoch braucht, ist allein schon aus dem wachsenden Umschlag der baltischen Häfen ersichtlich.

 

"Du sprechen Deutsch?"

Bisweilen kam dann noch die für eine bestimmte Unternehmergeneration relativ typische deutsche Verhaltensweise hinzu, die Kommunikation auch mit den eigenen Geschäftspartnern vorwiegend in deutscher Sprache halten zu wollen - da war die Begrenzung bereits vorgegeben. Dass heute die Investitionen in strategisch wichtige Wirtschaftsbereiche - wie zum Beispiel dem Energiemarkt, der Lebensmittelindustrie, dem Dienstleistungssektor, im Pressewesen, und der Telekommunikation weitgehend in der Hand von Firmen aus dem englischen Sprachraum (ich rechne hier die skandinavischen Staaten, die mit ihren Partnern durchweg in englischer Sprache umgehen, hinzu) sind, erscheint vor diesem Hintergrund nicht zufällig. Auch die Höflichkeit, im Lande der Partner die landesübliche Staatssprache zu sprechen und in Publikationen zu benutzen, scheint innerhalb der Institutionen der deutschen Wirtschaft nicht sonderlich ausgeprägt zu sein. Deutsche Kulturinstitutionen im Ausland halten es da nicht anders: während etwa der Nordische Rat überall im Lande kleine Regionalbüros aufbaute - nicht selten unter direkter Mitwirkung bereits existierender lokaler Initiativen - um dort die Eigenheiten und die Kultur Skandinaviens in die estnische, lettische und litauische Sprache übersetzen zu lassen, hofften wohl auf deutscher Seite die meisten weiterhin auf eine Trend zur puren Deutschsprachigkeit. So klafft im Handel Deutschlands mit den baltischen Staaten immer noch eine große Lücke zwischen einigen wenigen Großinvestitionen und dem ebenso allgemein wie kurzfristig orientierten Import-Export-Handel. - Erst die Auswirkungen der russischen Krise 1999 scheinen endgültig klar gemacht zu haben, dass auch die relativ kleinen baltischen Staaten eine eigene Entwicklungsperspektive brauchen, die auch regionalpolitisch und ökonomisch begründet sein kann. Allerdings gilt es dabei der Gefahr zu begegnen, sich nicht den Illusionen automatischen Wirtschafts- und Wohlstandswachstums durch schematische, unintelligente Umorientierung hin zur EU und damit einer neuen Abhängigkeit zu begeben.

 

Schwächen der Orientierung am Wirtschaftswachstum

Die hohen Wachstumsraten der deutschen Exportwirtschaft im Handel mit den Ostseestaaten sind genauso Tatsache wie die Sicherung von Arbeitsplätzen hierdurch. Gleichzeitig genießt die Orientierung am wachsenden Wohlstand eine sehr hohe Akzeptanz in den Transformstaaten selbst: Mit dem Blick darauf, dass es mittelfristig weniger Wohlstandsgefälle zwischen West und Ost geben soll, versuchen sich die Reformstaaten möglichst eng an die ökonomischen und juristischen Regeln, an diplomatische wie politische Umgangsformen zu halten. Die meisten Menschen finden sich dabei mit Durchschnittseinkommen von 400 - 500 DM monatlich ab, wobei die Unterschiede weit auseinander klaffen: Im Bankgewerbe und in der freien Wirtschaft werden auch schon mal 2000 DM oder mehr geboten, Angestellte im Bildungswesen, im sozialen Bereich, dem Gesundheitswesen oder der Jugendarbeit liegen nicht selten eher unter dem Durchschnitt. Maßnahmen der Alterssicherung, des Arbeitsschutzes und andere soziale Absicherung können erst langsam eingeführt werden und sind für viele gar nicht abrufbar. Im privaten Bereich kommen die Explosion der Mietkosten (viele neue Mietverträge werden in den Städten von gewinninteressierten neuen Besitzern grundsätzlich nur zeitlich begrenzt vergeben) und der Mietnebenkosten dazu. Rentenbezieher stehen oft vor der Wahl, die Bezüge entweder für die Miete oder für Lebensmittel ausgeben zu müssen - der Absturz in private Schulden ist vorprogrammiert. Wer kann, versucht sich mit der Annahme mehrere Jobs parallel zu retten: Abends, in den Ferien oder einfach zwischendurch.

In den 80er Jahren hatten sich die Menschen, entmutigt durch den tristen Alltag des Sowjetsystems, zusammengefunden um gemeinsam zu neuer Stärke zu besinnen und Werte, für die sich Einsatz und persönliches Engagement lohnt. Heute prägen Eigensinn, große soziale Unterschiede und Konsumorientierung das tägliche Leben. Zwar gilt die Errungenschaft der demokratischen Freiheiten und Rechte als unumstritten - kaum jemand sehnt sich zurück zum alten System - aber die Spruchweisheit "jeder ist seines Glückes Schmied" wird leicht umdefiniert in "wer nicht für sich selbst sorgt, ist dumm". Korruption in Verwaltung und öffentlichem leben ist weit verbreitet, und sogar Spitzenpolitiker sind dadurch bekannt, dass sie sich beizeiten auf möglichst trickreichem Wege Vermögen, Eigentum, Grundstücke oder Firmenbesitz angeeignet haben. Politiker und Parteien fallen weniger durch ihre Visionen für die Zukunft als durch die persönliche Raffgier der Protagonisten ins Auge. Der auffälligste Unterschied zwischen den baltischen Staaten und anderen Republiken in Westeuropa ist das fast völlige Fehlen eines Mittelstands. Dennoch orientieren sich auch die Geringverdienenden, nach dem die alten, vertrauten Strukturen fast völlig zusammengebrochen sind, an der absoluten Notwendigkeit zu verstärkter Mobilität und Flexibilität: ein neues Auto, ein Handy und - in den Städten - ein Internetanschluss haben ihre Funktion nicht nur als Statussymbol, sondern machen auch den Zugang zu neuen Jobmöglichkeiten aus. Gleichzeitig machen sich hier auch die Kurzfristigkeit und Unverbindlichkeit dieser neuen Möglichkeiten fest. Landflucht und der daraus folgende Stadt-Land-Gegensatz sind aber eine weitere Folge.

Vielleicht sind diese Grundmerkmale des privaten und beruflichen Lebens ja unvermeidlich auf dem Weg zu mehr Demokratie und Wohlstand. Skizziert sind sie hier nur deshalb noch einmal, um die Ausgangssituation für gesellschaftliches, politisches oder gar gemeinnütziges Engagement klar zu machen.

Für manche ist ökonomische Tätigkeit allgemeingültigen Richtschnur der allgemeinen Entwicklung im Ostseeraum. Die CDU-Abgeordneten, die für die Große Anfrage 2000 an die Bundesregierung verantwortlich zeichneten, stellen ein Beispiel dar. Zitat: "Für die Lösung der Aufgaben, die durch die bisherigen Beschlüsse der Helsinki-Konferenz zur ökologischen Sanierung des Ostseeraums auch als Beitrag zur Agenda 21 des Ostseeraums gestellt sind, ist eine positive ökonomische Entwicklung eine unabdingbare Voraussetzung." In der auf diesen Satz folgenden Passage werden die vielfältigen Kontakte, die in den letzten Jahren zwischen den Menschen in den verschiedenen Ostseeanrainerstaaten entstanden und aufgebaut wurden, sogar unter dem schlichten Stichwort der "Reaktivierung alter Verbindungen und Handelswege" zusammengefasst. An dieser Stelle darf wohl die Frage erlaubt sein, ob nicht liebgewordene Ideologien den Blick dafür trüben, dass hier die Tatsachen auf den Kopf gestellt werden: Nicht wegen, sondern TROTZ dem Rückfall in alte ökonomische Mechanismen (Stichwort: Frühzeit-Kapitalismus) setzen sich heute Menschen für eine bessere Umwelt, den Erhalt der Naturlandschaften und Ökosysteme, die Pflege traditioneller Kulturgüter, für allgemeingültige Menschenrechte und gleichberechtigte Kontakte zu gegenseitigem Nutzen ein. Vielfach sind es sogar Einzelpersonen, die Zeit und Geld dafür verwenden, neue Wege für neue Ideen zu suchen, damit Kontakte und gemeinsame Projekte entstehen können. Dabei las sich doch die Zusammenfassung der Philosophie schon der alten Bundesregierung (deren scheinbaren Begeisterung für die Ostseekooperation) als durchaus realitätsnah: Nur wer ökonomisches Gewinnstreben nachweisen kann, durfte auch auf Unterstützung hoffen.

 

Geht es aufwärts?

Stolz vermeldeten die CDU-Abgeordneten Börnsen & Co. 270% Steigerung deutscher Exporte in die baltischen Staaten zwischen 1993 und 1998. Sicherlich positiv, doch sollte auch nicht verschwiegen werden, dass kurz vorher die in der Umstellung begriffene baltische Wirtschaft fast völlig zusammengebrochen war: nach dem mißlungenen Moskauer Putsch von 1991 hatten die baltischen Staaten die Chance zur Wiederherstellung ihrer politischen Unabhängigkeit genutzt und bis 1993 jeweils ihre eigenen Währungen wieder eingeführt - allerdings um den Preis von durchschnittlich etwa 1000% Inflation zwischen 1992 und 1993. Dies war die Zeit, als 20 DM etwa einem baltischen Monatslohn gleichkam und in frisch gedruckten neuen Reiseführern stand, falls man als Reisender Schwierigkeiten bekäme, solle man "50 DM auf den Tisch legen".

Was lernen wir daraus? Zumindest eine gewissen Vorsicht gegenüber allzu überschwenglichen Statistiken. Andere Quellen besagen, dass zum Beispiel Lettland sich im Jahre 1999 gerade mal auf ca. 60% der Wirtschaftsleistung hochgearbeitet hatte, die das Land als Teil des sowjetischen Gefüge zuvor erbracht hatte (Latvian Ministry of Economy: Economic Development in Latvia; Juni 2000, Seite 17). Die OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) stellt in ihrem 1998 erschienenen "Investitionsführer Lettland" fest: "Ende 1993 machte das BIP im Vergleich zu 1990 real nur mehr die Hälfte aus" (OECD: Investitionsführer Lettland, S.47/48). Legiglich der Dienstleistungssektor machte ein rasantes Wachstum durch - allerdings auf Kosten anderer Bereiche wie der Landwirtschaft und der Industrie. Unangetastet von diesen Relativierungen bleibt jedoch, dass Deutschland bei der Umstrukturierung der baltischen Wirtschaft tatsächlich eine wichtige Rolle spielt - auch wenn deutsche Investitionen im Baltikum lange Jahre weit hinter den denen der nordischen Nachbarn zurückblieben (besonders wenn man sie ins Verhältnis zur Einwohnerzahl setzt). Eine kürzlich von der Delegation der Deutschen Wirtschaft in Estland, Lettland und Litauen veröffentlichte Untersuchung sagt aus, dass die unternehmerischen Aktivitäten deutscher Firmen in Lettland zu 42% im Dienstleistungs- und zu 36% im Bereich Im- und Export liegen (DIHT/AHK: Deutsche Direktinvestitionen in Lettland, September 1999, Seite 4). Dieselbe Untersuchung weist auch einige zwischenzeitliche Umorientierungen aus: Nicht nur aus norddeutschen Bundesländern wie besonders Hamburg, sondern auch aus NRW, Bayern, Baden-Württemberg und Berlin kommen die meisten Firmen. 58% der befragten Firmen geben, die "Ausschöpfung des lettischen Marktpotentials" sei der Hauptgrund für ihre Investitionen im Land. Den "Brückenkopf nach Russland" nennen nur noch 16% als Hauptbeweggrund. Diese Aussagen waren zum Zeitpunkt der Untersuchung (Juni 1999) von der schlechten Geschäftslage in Russland maßgeblich beeinflusst: 62% beurteilten die Lage dort als "eher negativ".

Alles in allem bietet die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der CDU vom November 2000 eine gute Gelegenheit für einen Überblick zu gegenwärtig von der Bundesregierung ins Auge gefaßten Themen der Ostseekooperation. Die CDU selbst gibt, eingebettet in die der Fragestellung beigefügte Lagebeurteilung, ebenfalls einige Schwerpunktthemen vor.

Vordringliche Themen der CDU sind demnach

  1. Die Vervollständigung des Verkehrsrings der VIA HANSEATICA/VIA BALTICA im Rahmen einer als Ostseering auszubauenden Autobahn
  2. Aufbau eurokompatibler Kommunikationssysteme
  3. Kostengünstige und umweltbewußte Netzwerkverbindungen im Energiesektor
  4. Wissenschaftliche Kooperation
  5. Stabilisierung der Ostsee-Sicherheitsarchitektur
  6. Grenzüberschreitende Zusammenarbeit unter Einbeziehung Russlands
  7. Modernisierung der Verwaltung und Aufbau marktwirtschaftlicher Strukturen vor allem in Nordwest-Russland

 

 

Von welcher Lagebeurteilung geht die Bundesregierung heute aus?

Im folgenden versuche ich, die Sicht der Bundesregierung (fortan kurz BR genannt) so kurz wie möglich zusammenzufassen und in den Zusammenhang der uns aus anderem Zusammenhang bekannten Diskussion zu stellen.

 

1.)  Aus welchen Quellen speisen sich die Informationen der Bundesregierung?

Die Bundesregierung definiert die Zusammenarbeit im Ostseeraum über folgende Faktoren:

    1. Die Beitrittsverhandlungen zur Europäischen Union (EU) und der dadurch sich ergebende Kontakt zu den Regierungen

    2. Die Zusammenarbeit im Ostseerat
    3. Die Arbeit im Zusammenhang mit dem Aktionsplan der EU "Nördliche Dimension"

    4. Der Zusammenarbeit zwischen Ostseerat und Europäischer Kommission

Diese Äußerungen klingen wenig sensationell, und sie sind es tatsächlich auch nicht. Hier wird nichts anderes gesagt als der Tatsache Ausdruck verliehen, dass man die Ostseekooperation als Bestandteil des Tagesgeschäfts ansieht. Ein spezieller deutscher Beitrag zur besseren Verflechtung der Ostseekontakte war und ist ebensowenig zu erkennen, wie auf irgendwelche speziellen Einrichtungen zum ständigen Austausch zwischen den Bundesländern zu diesem Thema verwiesen werden kann. Schon hier wird die Haltung der Bundesregierung deutlich, dass keine speziellen Maßnahmen zur Förderung der Ostseekooperation nötig sind, da man sich ja an den europaweit eingerichteten Gremien beteilige.

 

2.)  Wie bewertet die BR die Situation in den Ostseestaaten, welche Ziele hat sie?

    1. Bezüglich der wirtschaftlichen Aktivitäten die Dienstleistungen der Auslandshandelskammern und der Vertretungen der Deutschen Wirtschaft, vielfach aus TRANSFORM-Fördermitteln bezahlt.

    2. Der Besuch von Bundeskanzler Schröder in den baltischen Staaten im Juni 2000 als "erster Besuch eines deutschen Bundeskanzlers in Estland, Lettland und Litauen". Ergebnisse dieses Besuchs werden nicht aufgeführt. Abgezielt ist mit der Erwähnung sicherlich auf die Amtszeit des Amtsvorgängers Kohl, der für einen offiziellen Besuch in den baltischen Staaten nie Zeit fand - mit Ausnahme eines Ostseeratstreffens in Riga, wo er allerdings hauptsächlich um die russischen Gesprächspartner bemüht war. Dies stand unter Fachleuten lange im Gegensatz zum leicht dahergesagten Satz "Deutschland ist der Anwalt der Balten".

    3. Die Einrichtung von "Eurofakultäten", ein seit 1995 bestehendes Projekt zur Modernisierung der Lehrinhalte und -methoden in Estland, Lettland und Litauen. Auch die wissenschaftliche Kooperation stützt sich - wie auch der Studentenaustausch - inzwischen zumeist auf Förderprogramme der EU.

    4. Die Gemeinschaftsinitiative der EU zur regionalen, grenzüberschreitenden Zusammenarbeit INTERREG, die in der Förderphase ab 2000 mit höherer Dotierung weitergeführt wird.

    5. Ein Aktionsplan der Handels- und Wirtschaftsministerkonferenz, der auf Verbesserung der Grenzabfertigung im Güterbereich, Zertifizierungsfragen, Kampf gegen Korruption, Schutz geistigen Eigentums und Verbesserung der Bedingungen für kleine und mittlere Unternehmen abzielt.

    1. Der Beitritt Polens, Litauens, Lettlands und Estlands darf keine neue Grenzen entstehen lassen. Diese hübsch und modern klingende Forderung läßt den Ostseefreund nach einiger Betrachtung doch relativ ratlos zurück: Bedeutet dies nun, dass alle Kandidatenländer gleichzeitig aufgenommen werden müssen (damit keine neuen Grenzen zwischen dem Europa von morgen und dem von übermorgen aufgerichtet werden müssen?) oder läßt es nicht vielmehr die Schlussfolgerung zu, dass alles insgesamt doch lieber etwas länger dauern darf?

    2. Die Entwicklung des Ostseeraums soll nachhaltig, d.h. unter Wahrung des natürlichen und kulturellen Erbes der Region vorangetrieben werden. Die Umwelt-Zusammenarbeit im Rahmen der HELKOM und der "Regionalen Agenda 21 für den Ostseeraum (Baltic 21)" erfordert im Hinblick auf die wirtschaftliche Dynamik eine Vertiefung. Wieder ein schönes Wort. Bedeutet es, noch einmal "vertieft" über alles nachdenken zu wollen, oder soll es sich als "Verschärfung" z.B. der Umweltgesetze lesen lassen? Ein Beispiel wird immerhin genannt: "Schiffsentsorgung auf See". Hier staunt der Fachmann: Werden die Schiffe jetzt auf See entsorgt? Oder ist hier eigentlich so etwas wie ein "Stopp der illegalen Schiffsentsorgung auf See" - also beispielsweise Müll- und Bilgenwasserverklappung - gemeint?

    3. Einbeziehung der Russischen Föderation und seiner nordwestlichen Regionen in die regionale Kooperation ist eine notwendige Voraussetzung von Stabilität und Wachstum sowie den Abbau wirtschaftlicher Disparitäten in der Ostseeregion. Wenigstens dies klingt klar und verständlich: nichts geht ohne die Russen.

    4. Abbau der Handelshemmnissen (rechtliche Rahmenbedingungen, infrastrukturelle Voraussetzungen wie Verkehr, Energie, Telekommunikation, Grenzübertrittsbedingungen).

 

3.)  Wer kümmert sich im Auftrag der BR um Koordinierung der Ostseeaktivitäten?

 

4.)  Will die Bundesregierung die Entwicklung im Ostseeraum speziell fördern?

 

5.)  Werden Erfahrungen anderer abgerufen und genutzt?

6.)  Wird nachhaltige Entwicklung ernst genommen?

  1. Endgültig widersprüchlich wird es dort, wo die Bundesregierung dann konkrete Themen benennt: So wird etwa auf ein angeblich bereits seit 1997 laufendes und von der BR verabschiedetes Lachsschutzprogramm hingewiesen, nach dem ein Aktionsplan bis 2010 zum Schutz der Lachse insbesondere in Flussmündungen sorgen soll. Im krassen Gegensatz dazu stehen Aktivitäten deutscher Unternehmen wie der HAASE GmbH in Nordlettland. Dort soll der naturnahe Flusslauf der Salaza (Nordlettland), einem der wenigen Flüsse mit natürlicher Lachspopulation im gesamten Ostseeraum, aufgestaut werden. Die deutsche Firma Haase will durch ein neu zu errichtendes Stauwerk Strom gewinnen, dessen Produktion sich so wenig lohnt, dass erst durch ein Sondervertrag mit der lettischen Regierung der dreifache Stromabnahmepreis garantiert werden soll. Der Clou dabei: Damit es sich für die deutsche Firma richtig lohnt, soll gleich nebenan eine Firma zur Herstellung von PVC-Fenstern entstehen, und das in einem Land, das 25% seines Export mit Holz bestreitet. Zu fragen wäre außerdem, ob diese Firma aus Neubrandenburg Fördergelder der Bundesregierung für dieses Projekt in Anspruch nimmt. Wo bleibt hier die Durchsetzung des Konzepts der Nachhaltigen Entwicklung?
       

  2. Auch die an anderer Stelle so gelobten Projekte des INTERREG-Programms sind für NGOs in der Regel unerreichbar: Zwar könnten sie Konzepte der Nachhaltigkeit fördern, dienen aber nahezu ausschließlich der Unterstützung der Planungsbürokratie und der Verwaltungen. Schon von der Dimensionierung der Einzelprojekte her sind NGOs als Träger solcher Projekte nicht vorgesehen: Wo Gruppen vor Ort ihre Interessen beginnen zu entwickeln, da entdecken die Förderprogramme die Globalisierung (sog. grenzüberschreitende Zusammenarbeit). Hinzu kommt, dass NGOs schon grundsätzlich dort nicht unterstützt werden, wo sie nicht die rückhaltlose Unterstützung der zuständigen Behörden haben - ein Teufelskreis, denn Aktivitäten, denen keine Finanzierungsstrategie und kein Eigenkapital vorweisen können, haben vor Ort erst gar keine offizielle Anerkennung zu erwarten.
       

  3. Ein weiteres Kennzeichen von NGO-Aktivitäten ist es, dass sie oft dort eingreifen, wo staatliche oder privatwirtschaftliche Konzepte versagen: im sozialen Bereich, im Umweltschutz, in der Kultur. Alle diese drei Bereiche gehören unbezweifelbar zu einem nachhaltigen Entwicklungskonzept: Die Nichtbeachtung von NGO-Projekten auf diesem Gebiet spricht für sich selbst.
       

  4. Im sozialen Bereich kommen durch die latent vorhandene Spendenbereitschaft der Bevölkerung und den vielfachen ehrenamtlichen Einsatz vieler HelferInnen immer wieder Projekte direkter Hilfestellung zugunsten bedürftiger Einrichtungen zustande. Dabei sind die entscheidenden Impulse oft Einzelpersonen abseits der hauptamtlichen Strukturen zu verdanken, die unter dem Eindruck der Effektivität Projektarbeit und persönlicher Rückmeldungen privat Zeit und Geld investieren zur Erreichung der ideelen Projektziele. Zumeist entstehen solche Projekte aus einem ehemaligen beruflichen Zusammenhang der Initiatoren heraus, die dann in Richtung der Projekte erweitert wird.
       

  5. Im kulturellen Bereich geht es weniger um Hilfestellung einer Seite für die andere, sondern um Austausch und Begegnung. Bisher gibt es zwischen Deutschland und den baltischen Staaten keinerlei kontinuierliche Finanzierungsmöglichkeiten für kulturelle Projekte (einschließlich Jugendkultur), daher sind Konzepte des Sponserings oder von Projektzuschüssen staatlicher oder privater Stellen gefragt. Damit zusammenhängend tritt schnell die Gefahr der Kommerzialisierung (wegen der Abhängigkeit vonSponsoren) oder der Bürokratisierung der Aktivitäten (wegen häufiger Anträge und unterschiedlicher Abrechnungsformalitäten) auf. Dennoch entschließen sich viele Initiativ- und Interessengruppen dazu, wenn der direkte Kontakt mit Gleichgesinnten erst einmal hergestellt ist, Austauschmaßnahmen und Kooperationen zunächst auf gegenseitiger, privat getragener Basis zu beginnen (soweit finanziell tragbar).
       

  6. Im ökologischen Bereich entstehen Initiativen zumeist als kleine Gruppen lokal vor Ort mit der Absicht, Problematiken des Umwelt- oder Naturschutzes konkret zu bearbeiten. Die durch die Medien ständig präsente Thematik grenzüberschreitender Gefahren sorgt zudem dazu, dass ein großer Teil der persönlichen Motivation auch daraus bezogen wird, im Sinne allgemeiner, für ein ganzes Ökosystem oder eine geographische Region gültiger Grundsätze umweltfreundlichen Verhaltens und Handelns umsetzen zu wollen. Dabei besteht der typische Charakter der Aktivitäten unter dem Dach von Nicht-Regierungsorganisationen darin, dass von der persönlichen Betroffenheit in bezug auf eine bestimmte Problematik gehandelt wird. In der Regel kommen erst später, im Laufe der Aktivitäten, wissenschaftliche Kenntnisse oder politische Einschätzungen hinzu. Viele der ökologischen Initiativen werden zudem von jungen Leuten getragen und tragen somit auch nicht unwesentlich zur Entwicklung demokratischer Bewußtseinsbildung bei.

Allen drei Bereichen

 

 


Zwischenfazit:

Die Ostseekooperation steht aus deutscher Sicht erst am Anfang. Dort, wo Einzelpersonen und engagierte Initiativen längst strukturelle Schwierigkeiten des Umbruchs der 90er Jahre überwunden und Wege zueinander gefunden haben, ist Erfahrungsaustausch und gegenseitiges Kennenlernen bereits ein Stück selbstverständlicher geworden. Auch Wirtschaft und Handel, sonst oft als das traditionelle Gebiete der Ostseebeziehungen beschworen (Stichwort: Hanse), beginnen sich zu stabilisieren und in ihren unterschiedlichen nationalen Interessen zu akzeptieren. Der bevorstehende Beitritt der meisten östlichen Ostseeanrainerstaaten zur EU führt - wenn schon nicht zu mehr Verständnis füreinander - dann zumindest zu einer großen Zahl von Gesprächen auf allen regierungsamtlichen Ebenen.

Im Gegensatz zu anderen Ostseeanrainerstaaten vertrauen deutsche Stellen jedoch wenig auf die Eigeninitiative ihrer Bürgerinnen und Bürger: Konzepte zur Unterstützung demokratisch orientierter Interessengruppen existieren keine. So bunt und variantenreich die verschiedenen Aktivitäten der NGOs sich auch zeigen (z.B. kirchliche,. soziale, ökologische oder kulturelle Initiativen und Projekte), es fehlt ihnen allen gemeinsam insbesondere an Kontinuität und an den Möglichkeiten des Austausches untereinander. Darüber hinaus könnte es nützlich sein, wenn Dokumentation und Evaluation der eigenen Arbeit und der dazu eingesetzten Mittel und Methoden stabilisiert und ausgebaut werden und auch anderen nutzbar gemacht werden könnten.

Wenn das Aufeinanderzugehen und das Verständnis der Menschen der Ostseeregion füreinander in Zukunft als "Bottom-up"-Prozess ernst genommen werden soll, ist auch von deutscher Seite eine ernsthaftere und professionellere Unterstützung von NGO-Aktivitäten notwendig.

 

 

 

Literaturauswahl:

Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Abgeordneten Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Gundar Uldall, Ulrich Adam, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU; Drucksache 14/2293 vom 1.11.2000.

Alfred Eberhardt, Auswärtiges Amt: Conceptional Framework for an Baltic Sea Collaboration NGO Conference in Juni 2001; Oktober 2000.

AGENDA der Beziehungen Deutschlands zu den baltischen Staaten, Auswärtiges Amt 1998.

Investitionsführer Lettland. OECD-Zentrum für die Zusammenarbeit mit den Nichtmitgliedsländern, 1998.

Investitionsführer Estland. OECD-Zentrum für die Zusammenarbeit mit den Nichtmitgliedsländern, 1997.

Investitionsführer Litauen. OECD-Zentrum für die Zusammenarbeit mit den Nichtmitgliedsländern, 1998.

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Deutsche Direktinvestitionen in Lettland. Delegation der Deutschen Wirtschaft in Estland, Lettland und Litauen (DIHT/AHK), September 1999.

Die baltischen Staaten - Entwicklungskonzepte im Dialog. Handbuch der deutsch-baltischen Beziehungen. Heinrich-Böll-Stiftung & Baltisch-Christlicher Studentenbund, Bonn 1995.

Directory of Latvian non-governmental organisations. NGO-Centre Riga 1997.

NGO-Center Riga: Jahresberichte.

Tampere-Declaration: NGO Forum 2000. Peace, Welfare, Sustainable Development and Participation. Tampere, Finnland, Dezember 1999.

The Non-Governmental Organisation Information and Support Center, Vilnius: Fifth anniversary -1995-2000.

Caspari, Albert: Blick nach Nordost - warum ist Frieden und Verständigung an der Ostsee für die Deutschen wichtig? In: SECURITAS BALTICA, Security in the Baltic Region. Söderström AB, Stockholm 1996.

Handbuch Baltikum-Kontakte. Institutionen, Projekte, Initiativen. FIBRE-Verlag Osnabrück 1997, in Zusammenarbeit mit dem Verein INFOBALT, Bremen.

INFOBALT.DE - INFOBLATT BALTISCHE STAATEN. Zeitschrift für Politik, Kultur und Umwelt der baltischen Staaten Estland, Lettland und Lituauen, herausgegeben 2x jährlich vom Verein INFOBALT, Bremen.

An Agenda 21 for the Baltic Sea Region - Baltic 21. Beschlüsse der 7. Ministerratskonferenz des Rats der Ostseeanrainerstaaten in Nyborg, 22./23. Juni 1998. Herausgegeben von: Baltic 21 Sekretariat, Schwedisches Umweltministerium. Strömsborg, Stockholm 1998. Ebenfalls dort: Baltic 21 Newsletter.

CCB Newsletter. Vierteljährliche Zeitung des Zusammenschlusses der Ostsee-Umweltorganisationen "Coalition Clean Baltic" (CCB).

Baltic Sea Dialogue. Newsletter for Adult Learning in the Baltic Sea Area. Erscheint zweimal im Jahr bei: Nordic Folk Akademy, Göteborg.

BUND / FOE Germany: Billions for Sustainability? EU Regional Policy and Accession. Abschlußbericht eines Projektes aus Anlass der deutschen EU-Ratspräsidentschaft 1999. [Enthält positiv-negativ Beispiele u.a. aus Estland, Lettland, Litauen, Polen, Schweden und Deutschland.]

Finnish Environmental Institute: Raising environmental awareness in the Baltic Sea area. Helsinki 1999. [Enthält Ergebnisse einer Umfrage unter entsprechenden Organisationen aller Ostseeanrainerstaaten.]

 

 

 


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