Die Lage und Perspektiven von Nichtregierungsorganisationen in Russland

Jurij Dzhibladze Präsident des Zentrums für Demokratie und Menschenrechte Moskau

Die russischen nichtkommerziellen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) haben ihre Entstehungsperiode erfolgreich hinter sich gelassen. Sie sind dabei, für das Land ähnlich bedeutend zu werden wie vergleichbare Organisationen in den wirtschaftlich führenden Staaten. Während der russische nichtstaatliche Sektor zu Beginn der 90er Jahre nur aus vereinzelten bürgerlichen Initiativen bestand, gab es am 1. Januar 2000 landesweit bereits mehr als 285 000 NGOs.

Wie in anderen Ländern erfüllen die NGOs in Russland zwei wesentliche Funktionen. Zum einen lösen sie gemeinsam mit staatlichen Einrichtungen eine Vielzahl sozialer Probleme. Zum anderen bilden sie den Kern einer Zivilgesellschaft, indem sie demokratische Werte, die Menschenrechte und das Verantwortungsgefühl der Bürger stärken und zugleich Mechanismen für Bürgerexpertisen, die Bürgerkontrolle und einen gleichberechtigten Dialog zwischen der Gesellschaft und dem Staat über die Entwicklung des Landes erarbeiten.

Jährlich helfen russische NGOs mehr als 20 Millionen Bedürftigen, bereichern das Sozialwesen mit bis zu einer halben Milliarde US-Dollar aus nichtöffentlichen Geldern, zahlen Steuern und schaffen Arbeit für zwei Millionen Mitarbeiter. Sie sind heute ein eigener Marktsektor, der künftig soziale Dienste auch auf kommerzieller Basis anbieten kann. Im korporativen Sponsoring und im Aufbau von Stiftungen wurden ebenfalls erste Schritte getan.

In vielen Regionen Russlands hat sich unterdessen eine Partnerschaft zwischen den NGOs, dem öffentlichen und dem privaten Sektor eingespielt. Die NGOs wirken bei Problemen mit, die der Staat wegen fehlender Gelder oder Ineffizienz nicht bewältigt: Sie betreuen Invaliden, Flüchtlinge, Waisen, Strafgefangene und ehemalige Militärs, sie schulen Arbeitslose um, kümmern sich um die Probleme durch Aids, Drogen, Jugendverwahrlosung, häusliche Gewalt usw. Besonders in den russischen Regionen verschafft dies den NGOs bei der Bevölkerung und auch auf staatlicher Ebene große Autorität.

Zugleich demonstrieren die NGOs, dass Russland für eine stabile und effektive Demokratie eine entwickelte Zivilgesellschaft benötigt. Mit Hilfe der Bürgerorganisationen wird die Bevölkerung an der Lösung wichtiger gesellschaftlicher Aufgaben beteiligt, können viele Menschen Einfluss auf staatliche Entscheidungen nehmen und hören auf, lediglich passive Empfänger von staatlicher Unterstützung zu sein. Außerdem werden so paternalistische Tendenzen in der staatlichen Sozialpolitik überwunden. Die Kontrolle durch Bürgerinitiativen fördert die Transparenz und Effizienz der Behörden und mindert ihre Korruptionsanfälligkeit. Zudem erhält der Staat eine Rückmeldung für seine Tätigkeit.

Forschungen haben bewiesen, dass die Wirtschaftskraft in demokratischen Staaten mit postindustriellen Ökonomien gerade in solchen Regionen am stärksten wächst, in denen ein starker Dritter Sektor existiert und Bürgerinitiativen über gute Arbeitsbedingungen verfügen. Diesen Zusammenhang auch in Russland zu beachten, würde die Entwicklung des Landes wesentlich fördern. Doch bislang geschieht das nicht.

Aktuelle Probleme der staatlichen Politik gegenüber Nichtregierungsorganisationen

Leider betrachten russische Behörden den Dritten Sektor häufig nur als gering qualifizierten, unprofessionellen Helfer im sozialen Bereich. Die fachlichen und personellen Ressourcen der NGOs für die Sozial- und Wirtschaftspolitik werden kaum berücksichtigt und ihre Bedeutung bei der Entwicklung einer Zivilgesellschaft und neuer Reformkonzepte sowie für die Verringerung sozialer Spannungen werden deutlich unterschätzt. Legislative und Exekutive erlassen Verordnungen, die einzelne Nichtregierungsorganisationen nicht nach Maßgabe wirtschaftlicher oder sozialer Notwendigkeiten unterstützen, sondern entsprechend dem Druck von Lobbyisten oder kurzfristiger politischer Zweckdienlichkeit. Andererseits verfolgt die Staatsmacht die “Priorität staatlicher (nicht gesellschaftlicher!) Interessen" und bremst die Entwicklung zivilgesellschaftlicher Institutionen und Organisationen, indem sie die öffentliche Meinung immer wieder gegen nichtkommerzielle Initiativen aufbringt. Beamte und Gesetzgeber verstehen meist nicht die grundsätzlichen Unterschiede zwischen der Arbeit von NGOs und Privatunternehmen. Häufig halten sie NGOs nur für “räuberische Strukturen", die Vergünstigungen zur Steuerhinterziehung ausnutzen.

Diese misstrauische Einstellung wurde bei der obligatorischen Umregistrierung für Vereine 1999 und im neuen Steuergesetzbuch besonders deutlich. Die Umregistrierung wurde Hunderten vor 1995 gegründeten NGOs unter Angabe erfundener oder rein formaler Gründe verweigert. So gerieten Dutzende der “unbequemsten" Menschenrechts- und Umweltorganisationen unter Druck. Ohne Rechtsgrundlage forderten die Justizorgane von ihnen, Bezeichnungen, Satzungsziele und Tätigkeitsprofile zu ändern. Begriffe wie “Menschenrechte" oder “Rechtsschutz" sollten verschwinden. Als Begründung diente oft der juristisch nicht gedeckte Vorwand, wonach der Schutz der Menschenrechte in der Verfassung als Pflicht des Staates festgeschrieben sei und NGOs daher dem Staat auf diesem Gebiet lediglich helfend zur Seite stehen dürften.

Die neuen, in den Jahren 2000 und 2001 verabschiedeten Steuergesetze negieren ebenso wie ihre Vorläufer weitgehend die Besonderheiten des Dritten Sektors. Die unsystematische Besteuerung der NGOs hemmt unverändert die Spendentätigkeit von Unternehmen und Bürgern. Bereits unter der alten Steuergesetzgebung rangen die russischen NGOs deshalb jahrelang um individuelle “Erleichterungen", was der Politik zur Reform des russischen Steuersystems entgegenstand und der Korruption Tür und Tor öffnete.

Nach russischem Gesetz dürfen NGOs unternehmerisch agieren. Steuerpflichtig sind dabei allerdings selbst Erlöse aus dem Verkauf von Kinderbastelarbeiten, Konferenzbeiträge zur Kostendeckung und - was am absurdesten ist - kostenlose Leistungen und Sachspenden an andere NGOs und an Hilfsbedürftige. Stiftungen sind faktisch nicht vorhanden, da jene Mechanismen fehlen, die in anderen Ländern die meisten Wohltätigkeitsfonds finanzieren. Dazu gehören die Steuerbefreiung für Einkünfte aus Erbschaften und Wertpapieren, wenn sie für humanitäre Zwecke eingesetzt werden. Unternehmer, die gemeinnützige Hilfe leisten, werden in Russland eher bestraft als belohnt: Weisen sie in ihrer Rechnungslegung derartige Spenden aus, werden sie zur bevorzugten Zielscheibe von Steuerprüfungen. Dabei können sie höchstens fünf Prozent ihres Gesamtgewinns als gemeinnütziges Engagement steuerlich anrechnen lassen. Privatpersonen genießen nur dann Vergünstigungen, wenn sie für Kultur- und Sporteinrichtungen spenden.

Infolge dieser Faktoren entbehren russische nichtkommerzielle Organisationen praktisch aller weltweit üblichen Quellen zur Finanzierung von gemeinnütziger Arbeit. Damit verringert sich auch ihr Potential für die Entwicklung des Landes. Zugleich büßt der Staat Steuern aus möglicher legaler unternehmerischer NGO-Tätigkeit ein. Die NGOs werden abhängig von Zuschüssen ausländischer Fonds und deren Prioritäten, von der kostenlosen Arbeit Freiwilliger und von staatlichen “Almosen".

Noch 1999 lehnten Vertreter der Ministerien für Finanzen und Steuern praktisch sämtliche Änderungsvorschläge zur Steuergesetzgebung ab, die mit Unterstützung tausender Organisationen in die Duma eingebracht wurden. Die Regierungsvertreter und viele Abgeordnete der Duma waren ausschließlich darum besorgt, durch eine Verschärfung der Steuergesetze Finanzlücken im Staatshaushalt zu stopfen. Dabei sahen sie in den NGOs nur einen Kanal zur Steuerhinterziehung, ohne die positive Rolle der NGOs für die Entwicklung des Landes zu beachten.

Erst als es den führenden russischen NGOs im Frühjahr 2001 nach zahlreichen Bitten gelang, sich mit der für soziale Fragen zuständigen Vizepremierministerin Walentina Matwienko zu treffen, änderte sich die Lage: Die drakonischsten Steuerverordnungen, die bereits die Existenz des nichtkommerziellen Sektors insgesamt bedrohten, wurden außer Kraft gesetzt. Infolgedessen wurde aus der zuvor katastrophalen wirtschaftlichen Lage der NGOs jedoch lediglich eine schlechte.

In den ersten Monaten der Regierungszeit von Präsident Putin richteten führende Vertreter des Dritten Sektors einen ausführlichen Bericht mit Empfehlungen für die staatliche Förderung von Bürgerinitiativen an das Moskauer “Analysezentrum für strategische Ausarbeitungen", das von German Gref geleitet wird, dem für den Entwurf langfristiger Strukturreformen Putins zuständigen Minister für Wirtschaftliche Entwicklung. Doch die “Stimme der Öffentlichkeit" wurde nicht erhört - in der Endfassung der Regierungsstrategie fand sich kein einziger Vorschlag aus dem Dritten Sektor. Es schien, als wurde die Einstellung der Regierung gegenüber den Bürgerinitiativen unter Putin dieselbe bleiben wie zuvor in den fast zehn Jahren unter Boris Jelzin, als der Staat den Dritten Sektor bestenfalls unbeachtet ließ, ihm aber in der Regel nur Vorbehalte und Misstrauen entgegenbrachte.

Das Bürgerforum im Kreml - Chance oder Täuschungsmanöver?

Im vergangenen Jahr erlebte das Land jedoch ein bislang beispielloses Ereignis - das “Bürgerforum". Dies war eine Art Superkonferenz, im Rahmen derer am 21. und 22. November im Moskauer Kreml mehr als 4000 Nichtregierungsorganisationen aller Regionen - "von den Bienenzüchtern bis zu den . Menschenrechtlern" - Auge in Auge mit der föderalen Regierung unter Präsident Putin aufeinander trafen, um über die Entwicklung des Landes und die Zusammenarbeit von Staat und Gesellschaft zu sprechen.

Das Bürgerforum bewies, dass der NGO-Sektor inzwischen politisch eine große Rolle spielt. Zumindest die Staatsspitze sieht nun in den NGO eine wichtige Ressource, die sie bei Wahlen und für die soziale Stabilität bei der Realisierung des schwierigen Projekts einer “Modernisierung Russlands" benötigt.

Schließlich kann dieses Projekt in der Gesellschaft durchaus empfindliche Reaktionen auslösen - so bei der Reformierung des kommunalen Wohnungssektors, des Arbeitsrechts, des Gesundheitswesens und bei der Umstrukturierung der Wirtschart. Zugleich befürchtet die russische Regierungselite jedoch, dass die neue Ressource auch von der politischen Opposition genutzt werden könnte.

Wie die Vorbereitungen, so waren auch die unmittelbaren Ergebnisse des Forums widersprüchlich und vielschichtig, und die daraus entstandenen Möglichkeiten müssen erst noch umgesetzt werden. Die meisten Führer der unabhängigen gesellschaftlichen Organisationen sind der Auffassung, dass das Bürgerforum einerseits die Anerkennung der gestiegenen Bedeutung von NGOs durch die Regierung demonstriert. Andererseits stelle es den Versuch dar, eine effektive Kontrolle über den Dritten Sektor und seine Tätigkeit zu erlangen, indem lenkbare Strukturen und eine weitere “Vertikale der Macht" aufgebaut werden. Dafür war zunächst vorgesehen, ein zentrales, wählbares Zentralorgan einzurichten, das den NGO-Sektor im Dialog mit dem Präsidenten “vertreten" sollte.

Dagegen hätten jene NGO, die auf die vorgesehenen Bedingungen der “Zusammenarbeit" nicht eingegangen wären, isoliert und in der Gesellschaft als nicht konstruktive, gegen den Staat gerichtete Außenseiter dargestellt werden sollen. Nebenbei hätten die staatlichen Organisatoren des Forums ihren ausländischen Partnern die “Fortschrittlichkeit" der russischen Führung zeigen können, indem sie offiziell die Bedeutung der Zivilgesellschaft anerkennt und dabei eine Attrappe dieser Zivilgesellschaft in Form unverbindlicher Deklarationen und speziell geschaffener Strukturen demonstriert.

Den russischen Nichtregierungsorganisationen gelang es jedoch, eine gemeinsame Position zu finden und der Staatsführung öffentlich jene Prinzipien einer Zusammenarbeit von Staat und NGOs abzufordern, die tatsächlich einen gleichberechtigten Dialog zum Nutzen des Landes gestatten. “Wir sind für niemanden die politische Reserve, wir sind eine Ressource der Gesellschaft", erklärten die NGOs.

Man muss anerkennen, dass die Reformkräfte innerhalb der Präsidialadministration und der Regierung offenbar eingesehen haben, dass der ursprüngliche Plan nicht zu verwirklichen war und es im Interesse Russlands und seiner Regierung liegt, den Dialog mit einem realen Partner zu führen. Im Ergebnis bestand das Bürgerforum aus beispiellos offenen Diskussionen zwischen den Vertretern der NGOs und der föderativen Regierung über 21 von den NGOs selbst bestimmten Themen - vom Krieg in Tschetschenien bis zur Reform des Bildungssystems. Auf vielen Gebieten trafen sie erstmals konkrete Vereinbarungen über ständige Strukturen für eine Zusammenarbeit. Die Worte des Präsidenten am Rednerpult des Forums über die Bedeutung der Zivilgesellschaft und über den gleichberechtigten Dialog mit ihr vernahmen Beamte im ganzen Land. Die Presse schrieb niemals zuvor so viel über die Nichtregierungsorganisationen wie während der Vorbereitung des Forums, und viele russische Bürger erfuhren auf diese Weise zum ersten Mal von der Arbeit der NGOs.

Der Streit darüber, was auf dem Bürgerforum überwog - der Versuch eines echten Dialogs oder einer propagandistischen Vorzeigeveranstaltung - ist noch nicht verstummt. Ob die auf dem Forum erzielten Vereinbarungen tatsächlich erfüllt werden, hängt nun sowohl von den NGO als auch von der Regierung ab. Denn das Schwanken der Regierenden zwischen ihrem Wunsch, “Europäer zu sein" und der Vorstellung, es sei notwendig, in Russland eine “handgesteuerte Demokratie" mit undemokratischen Methoden durchzuführen, wird in der nächsten Zeit kaum enden. Ob die russischen NGOs aktiv an den politischen und gesellschaftlichen Prozesse beteiligt sein und realen Einfluss auf die Staatsführung nehmen werden - das hängt in erster Linie von den NGO selbst ab, von ihrer Einigkeit und Professionalität und davon, ob sie ihre Unabhängigkeit wahren.

Aktuelle Aufgaben der Nichtregierungsorganisationen

Mit Beginn des Jahrhunderts sehen sich die russischen NGO einer ganzen Reihe neuer Herausforderungen gegenüber. Sie stellt, wie auch das Bürgerforum, eine sehr widersprüchliche Mischung von Positivem und Negativem dar. Zu diesen Herausforderungen gehören die Putinsche “Wende nach Westen" nach den Ereignissen vom 11. September, die aktive Reformierung der politischen, ökonomischen und sozialen Sphäre nach zwei Jahren der Konsolidierung der föderalen Macht, die Beschleunigung der Globalisierungsprozesse und die nahende Aufnahme Russlands in die WTO. Dazu gehören auch die Fortsetzung des brutalen Krieges in Tschetschenien und der Verbrechen gegen die dortige Zivilbevölkerung sowie eine verstärkte Tendenz hin zu einem korporativen Polizeistaat (so durch den wachsenden Einfluss der Geheimdienste, vermehrte Angriffe auf die Meinungsfreiheit, “Spionage"-Prozesse gegen Wissenschaftler und Ökologen, die Übernahme der Kontrolle in der Exekutive, im Parlament, bei den Parteien, Medien, Gewerkschaften, Wirtschaftsverbänden usw.). Um diesen Herausforderungen erfolgreich begegnen und die neuen Möglichkeiten nutzen zu können, müssen die russischen NGO meiner Meinung nach:

ihre Aufgabe nicht nur im Erbringen sozialer Dienste begreifen, sondern auch darin, gesellschaftliche Interessen zu vertreten und Einfluss auf die Tätigkeit der Staatsorgane alter Ebenen zu nehmen

Russland braucht einen starken Sektor von Nichtregierungsorganisationen nicht weniger als einen starken Staat. Mehr noch: ohne einen starken gesellschaftlichen Sektor, der ein ernsthafter Partner ist und zugleich für den Staat ein Gegengewicht und eine Beschränkung bildet, wird ein starker Staat gefährlich für die russischen Bürger und auch für andere Länder. Gelingt es den russischen NGO jedoch, auf die neuen Herausforderungen angemessen zu antworten und von der Führung des Staates die Verwirklichung des auf dem Bürgerforum deklarierten gleichberechtigten Dialogs zu erreichen - dann wachsen in Russland die Chancen, eine demokratische Gesellschaft zu schaffen, die auf der  Unverletzlichkeit der Gesetze und auf der Priorität der Menschenrechte beruht, die über eine effiziente Marktwirtschaft verfügt und Bedürftigen eine wirksame soziale Absicherung bietet.

Übersetzung: Stefan Melle

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